Markthalle Neun
Ein Gespräch mit Lea Ligat aus der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg über die Entwicklung der Markthalle, ihren Bildungsauftrag und das Zusammenarbeiten aller Akteure im Lebensmittelsystem.
Die Markthalle Neun zählt heute zu einer der noch wenigen erhaltenen historischen Markthallen Berlins, die vor wenigen Jahren mit neuem Konzept wiedereröffnet wurde. Kannst du kurz erläutern, wie es zu dieser Neueröffnung kam?
Die Markthalle Neun besteht schon sehr lange, sie wurde 1891 eingeweiht und war eine von insgesamt 14 Stück in Berlin. Nach Bekanntgabe der Privatisierungspläne des Senats setzten sich Bürgerinitiativen stark dafür ein, dass die Halle nicht an Großinvestoren wechselte – Interessenten gab es genügend –, sondern ihren eigentlichen Nutzen wieder erfüllt und einen Markt für die Dinge des täglichen Bedarfs sowie einen Treffpunkt für die Nachbarschaft bietet. Anstatt sie einfach an den Höchstbietenden zu verkaufen, gab es ein Konzeptverfahren, das die beste und passendste Idee ermittelte. Ziel des Konzeptes der Markthalle Neun war es, zu zeigen, wie anders essen und einkaufen für alle möglich ist. 2011 wurde sie dann als Markthalle Neun durch die heutigen Betreiber wiedereröffnet.
In welchem Zustand befand sich die Halle, bevor sie durch die neuen Betreiber übernommen wurde?
Der Ort hier lag wirklich brach, das war echt irre. Seit den Siebzigern dominierten drei große Discounter die Markthalle, einen gibt es hier ja noch. Die haben etwa Dreiviertel der Fläche eingenommen und es gab zu dem Zeitpunkt fast gar keine anderen, kleineren Verkaufsstände mehr. Die Stadt versuchte damals, all das unter einem Dach zusammenzubringen, was von den Anwohnern täglich gebraucht wurde – in gewisser Weise machen wir das ja auch heute wieder und bieten ein breites Grundsortiment an, heutzutage allerdings mit einem anderen Fokus als damals. In den 2000ern ist die Halle dann nahezu ausgestorben, konnte aber glücklicherweise nach der Übernahme recht schnell neugestaltet werden, da sich wirklich schnell viele Leute dafür gefunden haben. Angefangen von Johannes Heidenpeter, der seit Beginn an hier handwerkliches Bier braut, zu Sironi, die eine der ersten gläsernen Bäckereien in der Halle eröffnet haben.
Stichwort Gläserne Bäckerei: Die Markthalle ist also nicht einfach nur ein Ort um einzukaufen, sondern vielmehr ein Ort, der das Lebensmittelhandwerk erlebbar macht, oder?
Im Endeffekt ist es genau das, worum es uns geht – eine Plattform zu sein für Lebensmittelhandwerk und regionale Wertschöpfungsketten, gleichzeitig bietet die Markthalle uns den Raum zu erforschen, wie eine Ernährungswende funktionieren kann, wie Berlin sich zukünftig ernähren kann. Wir können hier verschiedene Themen und Fragestellungen untersuchen und Dinge ausprobieren, auch mit dem Wissen, nicht auf alles sofort eine Lösung zu finden. Die Markthalle bietet allen Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen, eine Plattform mit ganz unterschiedlichen Formaten.
Welche Formate sind das genau?
Zum einen gibt es da den Wochenmarkt, der, auch in Coronazeiten, eine Vielzahl regionaler Landwirt:innen und Händler:innen zusammenbringt, die hier ihre Produkte vertreiben können. Der Fokus liegt auf der Region Berlin-Brandenburg, gleichzeitig gibt es hier aber auch regionale Erzeugnisse und Spezialitäten aus aller Welt, um so die kulinarische Diversität Berlins zu repräsentieren. Um die ganze Vielfalt zeigen zu können, haben wir 2013 den Street Food Thursday ins Leben gerufen, der jungen Köch:innen aus aller Welt eine Bühne bietet – gerade für all diejenigen, die gerade erst nach Berlin gekommen sind und sich noch kein festes Standbein aufgebaut haben, bietet diese Eventreihe eine gute Möglichkeit, ihre Esskultur einem größeren Publikum zu zeigen, ohne dabei ein finanzielles Risiko einzugehen. Außerdem organisieren wir verschiedenste Themenmärkte, die sich ganz ausführlich jeweils einem Lebensmittelhandwerk widmen. Wir bringen die Konsument:innen nah an die Erzeuger:innen heran, was ein starkes Netzwerk schafft und den direkten Austausch fördert. Wir sehen das als unseren Bildungsauftrag, der ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, sondern einfach durch das Schmecken, Erleben, Kennenlernen funktioniert. Wir wollen die Menschen inspirieren, sich damit auseinanderzusetzen, wie man sich anders ernähren kann.
Welches Ziel verfolgt ihr damit?
Wir setzen uns dafür ein, dass es hier gute Lebensmittel für alle gibt, das ist unser großes Ziel. Das bedeutet für uns, dass Essen nicht nur den Konsument:innen gut tut, also geschmacklich gut ist und genügend Nährstoffe bietet, sondern sich in der gesamten Wertschöpfungskette positiv auswirkt – Händler:innen, Landwirt:innen auf den Feldern und alle weiteren, die an der Erzeugung beteiligt sind, müssen davon nachhaltig profitieren können. Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss auch, dass die Lebensmittel oftmals etwas teurer sind als beispielsweise das Angebot im Discounter, das sich eine breitere Masse der Gesellschaft leisten kann. Unser grundsätzliches Anliegen ist es daher, aufzuzeigen, dass Lebensmittel unheimlich politisch sind und wenn wir von einer Ernährungs- und Agrarwende sprechen, auch ganz klar davon sprechen, dass sich politisch etwas ändern muss, damit gute Lebensmittel nichts Elitäres sind, sondern wirklich für alle zugänglich.
Wie könnte man das schaffen?
Das liegt nicht allein am Preis der Lebensmittel, sondern auch daran, dass das Bildungssystem in Deutschland überhaupt nichts zu den Themen Ernährung und Kochen vorsieht. Wenn du in einer Familie aufwächst, in der das Kochen keine Rolle spielt, sich nicht mit Lebensmitteln auseinandergesetzt wird, bedeutet das oft, dass du schlicht keinen Bezug zu ihnen hast, da dieser auch in der Schule nicht vermittelt wird. Du weißt dann gar nicht, wie du mit Lebensmitteln umgehen kannst, was du alles daraus machen kannst. Genau aus diesem Grund bieten wir seit 2014 Ernährungsbildung in verschiedenen Formen an – Wissensaustausch, Dialog mit Expert:innen und Lebensmittelhandwerker:innen, sowie Kochkurse und Workshops. Insbesondere das Bildungsprogramm für Kinder wollen wir noch stark ausweiten. Seit Sommer 2020 haben wir unsere Kochschule Neun, für die wir mit Schulen aus dem Kiez und verschiedenen sozialen Vereinen zusammenarbeiten, um Kindern Lebensmittel näherzubringen – das geht über das reine Kochen hinaus und versteht sich mehr als eine Art Erlebnistour. Es ist ganz wichtig, den Kindern die Freude daran zu vermitteln, einen Bezug herzustellen, Vielfalt zu zeigen. Indem wir das umsetzen, befähigen wir sie, auch später eigene (Kauf-)Entscheidungen zu fällen und nachhaltiger damit umzugehen. Genauso wie wir uns verantwortlich fühlen und handeln, muss aber auch die Politik reagieren. Nur mit einem radikalen Umsteuern der Politik schaffen wir eine Ernährungs- und Agrarwende.
„Unser grundsätzliches Anliegen ist es, aufzuzeigen, dass Lebensmittel unheimlich politisch sind und wenn wir von einer Ernährungs- und Agrarwende sprechen, auch ganz klar davon sprechen, dass sich politisch etwas ändern muss, damit gute Lebensmittel nichts Elitäres sind, sondern wirklich für alle zugänglich.“
Welche Bedeutung hat es für euch und eure Arbeit, Teil der Gemeinschaft zu sein?
Da wir am gleichen Strang wie die Gemeinschaft ziehen und die gleichen Werte vertreten, war es für uns klar, dass wir Mitglied sein wollen. Die Gemeinschaft setzt sich für den Ausbau des Netzwerks und den Austausch aller Akteure ein, das ist genau das, was wir auch voranbringen wollen. Denn den Wandel ermöglichen können wir nur, indem wir zusammenhalten. Leider steht man sich oft gegenseitig im Weg, obwohl die gleichen Ziele verfolgt werden. Zu oft fehlen die Kommunikation und das Verständnis füreinander – was meiner Meinung nach daran liegt, dass wir einander nicht genügend zuhören und austauschen. Die Gemeinschaft bringt unheimlich viel Kommunikation in die Lücke zwischen Stadt und Land, also wirklich dahin, wo sie gebraucht wird. Unser großes Ziel ist die Ernährungswende in der Stadt bei einer gleichzeitigen Agrarwende auf dem Land – die gehören unbedingt zusammen, denn ohne die eine funktioniert die andere gar nicht. Die Gemeinschaft bringt alle daran beteiligten Akteure an einen Tisch.
Wie kann die Zusammenarbeit aller Akteure noch gestärkt werden?
Teil einer starken Zusammenarbeit sind auf alle Fälle ständiger Austausch und Kooperationen, aber es gehört auch dazu, ganz konkrete Lösungsvorschläge aufzuzeigen. Es braucht gute Beispiele, die dann wiederum andere inspirieren. Wir haben es uns in der Markthalle zur Aufgabe gemacht, Menschen und Projekten eine Bühne zu geben, die sonst keine haben. Und das ist ja auch das Schöne an der Gemeinschaft, dass sie beipsielsweise eben auch konstant die Gastronomie darauf aufmerksam macht, welche Interessen und Bedürfnisse es in der Landwirtschaft gibt und andersherum.
Was sind für dich die wichtigsten Kernthemen, an denen weiterhin im Lebensmittelsystem gearbeitet werden muss?
Was glaube ich über allem steht, ist, dass wir gesamtgesellschaftlich viel besser verstehen müssen, wie komplex die Lebensmittelwelt ist, Landwirtschaft und Gastronomie einbezogen. Wir müssen verstehen, wie sehr Lebensmittel verschiedenste Bereiche unseres Lebens und unserer Wirtschaft verbinden und dem mehr Gewicht beimessen. Es fehlt auf jeden Fall eine Lobby für diese Themen. Das Lebensmittelsystem erfährt zu wenig Wertschätzung, das zieht sich durch alle Teilbereiche und das muss sich unbedingt verändern, sowohl von Seiten der Politik als auch bei jeder:m Einzelne:n. Da die großen politischen Struktur meist sehr lang brauchen, bis sich etwas tut, ist es umso wichtiger, dass wir im Kleinen viel bewegen und Druck von unten aufbauen.
Fotos
Markthalle Neun
Text und Bearbeitung
Carolin Foelster