Michelberger Hotel & Restaurant

Ein Gespräch mit Nadine und Tom Michelberger, die seit 2009 in Berlin-Friedrichshain das Michelberger Hotel betreiben. Wir sprechen mit den beiden über ihr Konzept, das seit 2018 auch eine eigene Farm umfasst, und die Bedeutung von gemeinschaftlicher Vernetzung.

Das Michelberger unterscheidet sich sehr von anderen Hotels in Berlin, es ist viel lebhafter, bietet Raum für unterschiedlichste Events und Ideen. Was war eure Motivation, diesen Ort zu erschaffen?

Tom: Wir sind beide sehr unternehmerisch veranlagt und haben eine berufliche Unabhängigkeit gesucht. Anfang 2003 haben wir uns in Berlin kennengelernt und waren beide inspiriert von dem, was uns die Stadt bot. Aus dem fixen Gedanken, ein Haus dieser Größe in ein Hotel oder eine Plattform für andere zu verwandeln ist relativ schnell eine handfeste Idee geworden, die umso besser wurde, je mehr wir über sie nachgedacht haben. Damals waren Hotels als soziale Räume ja total verkümmert, es gab zwar ein paar Hostels, die das Thema ganz rudimentär aufgenommen haben, ansonsten gab es nur Ketten und ein paar Designhotels. Wir wollten ein Familien- und Zugehörigkeitsgefühl kreieren, einen Ort, der durch die Leute geprägt ist, die ihn betreiben und der ganz unterschiedliche Komponenten beinhalten kann, der unterschiedlichste Menschen eine Plattform bietet und uns mit ihnen in Kontakt bringt.

Nadine: Der Kontakt mit anderen Menschen ist genau das, wodurch eine Multiplikation bestimmter Ideen stattfinden kann. Als wir das Hotel gegründet haben gab es nichts Vergleichbares und wir haben vieles einfach ausprobiert, zum Beispiel die Rezeption Rücken an Rücken an die Bar zu bauen. Für uns war das nicht nur effizienter, sondern gab allen Besucher*innen das Gefühl, hier willkommen zu sein. Jede:r sollte sich eingeladen fühlen, das war uns wichtig.

Tom: Wir hätten damals wahrscheinlich auch eine Farm oder andere Projekte umsetzen können, aber immer mit der gleichen Haltung. Mit dem Hotel haben wir einen Ausgangspunkt gefunden, den wir gestalten können und der uns eine menschliche, gesellschaftliche und politische Ausdrucksform bietet, an dem laufend neue Ideen dazukommen können.

Stichwort Farm – seit einiger Zeit betreibt ihr eure eigene Farm. Wann und wie kamt ihr zu dieser Idee?

N: Wir haben hier schon immer viele Veranstaltungen u.a. rund um die Themen Essen und Wein organisiert, haben unser Haus so oft wir konnten als Plattform genutzt. Ende 2018 war es für uns ein ganz logischer Schritt, unsere eigene Landwirtschaft dazu zunehmen, um noch unabhängiger zu werden und den Zugriff auf gute Produkte zu sichern. Insofern logisch, als unsere Familien schon immer einen landwirtschaftlichen Bezug hatten, diese Beziehung wollten wir weiterführen. Damit hat sich ein Kreis für uns geschlossen, den wir durch die Art der Landwirtschaft, die wir dort betreiben, noch vervollständigen konnten.


Welche Form der Landwirtschaft ist das genau? 

N: Wir betreiben eine regenerative Agroforstwirtschaft, was bedeutet, dass wir uns als Mensch zurücknehmen und die Natur selbst arbeiten lassen. Wir sind ein Teil des Systems, das sich aus einer Vielzahl von Organismen zusammensetzt – eine Art Schichtsystem, das u.a. eine Krautlage, Pilze, Kräuter, Sträucher, Gemüse, Obstbäume und Biomassenbäume umfasst. Wir regen immer wieder das Wachstum an und sorgen für die Vernetzung und Kommunikation der Pflanzen untereinander, sodass sie ihren Ertrag erhöhen, gleichzeitig aber auch eine immer stärkere Humusschicht ausbilden können, in der die ganzen Mineralien und Nährstoffe sitzen, die der Mensch schlussendlich für sein Immunsystem braucht. Für uns ist das ein sehr schlüssiges System.

T: Und für uns etwas sehr Handfestes und Greifbares – theoretische Ideen und Gedanken zu haben ist das eine, die dann aber auch in die Praxis umzusetzen ist für uns die größte Freude, mit der auch die stärkste Lernkurve kommt. Es geht dabei nicht um Größe der Projekte, sondern darum, welchen Impact sie erzielen. Das ist insgesamt für uns und das Hotel eine wichtige Erkenntnis – wenn wir ein schnelleres Wachstum verfolgt hätten, hätten wir genau das verloren, was uns ausmacht. Bisher hatten wir da immer ein sehr gutes Gespür, bis zu welcher Größe wir Dinge integrieren können, bis wohin Wachstum gut für uns ist.

N: Wobei man aber sagen muss, dass diese Form der Landwirtschaft durchaus skalierbar ist, in beide Richtungen. Es ist ein System, das jeder für sich umsetzen kann, egal ob auf dem Balkon, im Garten oder auf Tausenden von Hektar. Es verfolgt eine Systematik, die einfach Menschen, Boden und Klima guttut.

T: Das Besondere ist auch, dass es sofort sichtbar ist. Wir machen das jetzt seit zwei Jahren und trotzdem siehst du schon so viel, auch wenn es alles noch sehr klein ist.

Wenn wir uns vernetzen, haben wir eine größere Schlagkraft, genau die Dinge zu ändern, die notwendig sind. Denn die Notwendigkeit ist auf jeden Fall da. Nur in einem Zusammenschluss aus Vielen ist es möglich, alte Strukturen zu reformieren.

Wollt ihr die Farm eines Tages auch für eure Gäste erlebbar machen? 

T: Dadurch dass man sie schon voll erleben kann, wollen wir unsere Gäste unbedingt stärker mit einbinden, sowohl in unserer Kommunikation nach außen, als auch dass sie rausfahren können, um dort zu übernachten und mitzuarbeiten.

N: Wir konnten dieses Jahr schon viele eigene Erzeugnisse in unsere Restaurants einbringen, auch wenn einjährige Gemüse sehr pflegeintensiv sind und noch nicht den vollen Ertrag liefern. Der Geschmack ist nicht zu übertreffen, du hast bei jedem Bissen wirklich das Gefühl, du isst Energie. Das ist absolut unschlagbar.


Welche Auswirkungen hatte das auf die Küche und euer Speiseangebot? 

N: Alles, was wir an Produkten hatten, haben wir einfach in die Küche gegeben – ab einem bestimmten Zeitpunkt haben wir nicht einmal mehr Menüs geschrieben, sondern den Gästen einfach einen Korb der Zutaten gezeigt, die an dem Tag frisch vom Feld kamen. Dazu konnten sie wählen, ob sie Fleisch wollen oder nicht, oder ob es bestimmte Abneigungen oder Unverträglichkeiten gab. Das war für uns eine Möglichkeit, den Fokus voll auf den Verarbeitungsprozess zu legen und hat uns außerdem gezeigt, wie wertvoll die Produkte eigentlich sind. Außerdem kamen wir so auch viel stärker mit den Gästen in den Austausch darüber, welche große Bedeutung es hat, so zu arbeiten und zu kochen.


Lag euer Fokus in euren Restaurants schon immer auf regionalen Bio-Erzeugnissen?

T: Unser Hotel hat sich über die Jahre stetig weiterentwickelt, vor allem das Restaurant hat sich in den letzten drei, vier Jahren immer wieder neu erfunden. Die Küche des Restaurants haben wir bereits vor acht oder neun Jahren komplett auf Bio-Erzeugnisse umgestellt, wovon wir einen Teil direkt von den Erzeuger:innen beziehen.

N: Das war auf jeden Fall der erste Schritt, bei dem wir gemerkt haben, dass die Infrastruktur eigentlich überhaupt nicht darauf vorbereitet war, Bio-Produkte in höheren Volumen anzubieten. Gott sei Dank hatte sich damals Terra bereit erklärt, uns mit dazu zunehmen, sodass wir den Hauptbedarf erstmal abgedeckt hatten und daneben viele weitere kleine Höfe, Fischereien, Käsereien etc. anfragen konnten. Aber die grundlegende Struktur war überhaupt nicht vorhanden, die Antworten auf unsere Fragen und Bedürfnisse mussten wir uns selber geben.

Und wie ist dann der Kontakt zu den einzelnen Erzeuger:innen entstanden, wie habt ihr euer Netzwerk aufgebaut? 

T: Ich bin oft in die Markthalle Neun gefahren, um dort Lieferant:innen zu finden und kennenzulernen, so hat sich vieles ergeben. Das kleine, enge Netzwerk, das es damals in Berlin gab, hat sich in den letzten Jahren auf jeden Fall deutlich vergrößert. Ich habe das Gefühl, es gibt heute generell ein größeres Interesse an guten Produkten. Unser eigener Fokus lag von Beginn an immer auf guten Produkten – alles, was wir für uns selber herausgefunden haben, haben wir in das Hotel integriert. Wir wollten auch nie eine Kette werden, sondern uns voll und ganz hierauf konzentrieren konnten.

N: Uns ist es wichtig, enge Kontakte zu haben, daher war der Austausch mit den Lieferant*innen schon immer sehr persönlich. Damit geht auch eine höhere Wertschätzung für die Produkte an sich einher, als wenn man alles über den Zwischenhandel organisiert.


Tom, du hast eben angesprochen, dass sich das Restaurant in den letzten Jahren mehrmals neu erfunden hat. Inwiefern genau?

T: Eine der markantesten Änderungen haben wir beim Frühstücksbuffet vorgenommen, das sah anfangs ganz anders aus. Als wir angefangen haben viel mehr Gemüsevariationen anzubieten statt klassischer Dinge, wie Rührei, Speck, Orangensaft, Brot, da waren die Leute schon etwas irritiert und haben uns auch darauf angesprochen, haben die Dinge gefordert. Aber über die Zeit, und das ging echt relativ schnell, haben die Gäste das neue Angebot akzeptiert und wir wurden regelmäßig darauf angesprochen, dass sich auch Frühstückstraditionen bei ihnen zu Hause ändern – allein durch das Angebot, was wir ihnen hier machen.

N: Viele Gäste haben gemerkt, dass durch gute Produkte, wie zum Beispiel selbstgemachtes Brot, ein ganz anderer Sättigungseffekt eintritt – nämlich durch ein Drittel der Menge, die sie sonst gegessen haben. Diese Erfahrungen sind wichtig, um wirklich etwas verändern zu können. Durch das Probieren werden die Leute sensibler.

T: Seitdem wir selber backen, nehmen die Leute nicht nur weniger und dafür bessere Produkte zu sich, sondern wir spüren auch einen erheblichen wirtschaftlichen Vorteil. Diese Produktmassen und den Abfall, die wir anfangs hatten, haben wir jetzt nicht mehr. Die Umstellung ist einfach auf allen Ebenen sinnvoll gewesen, da fragt man sich, warum das nicht alle so machen.


Habt ihr weitere Ideen und Pläne, die ihr umsetzen wollt?

T: Was uns auf jeden wichtig ist, ist die Brücke zwischen Berlin und Brandenburg noch weiter auszubauen, zusammen mit der Gemeinschaft. Die Hotellerie und Gastronomie haben ein großes Potenzial, was noch ungenutzt ist – und nur darauf zu warten, dass sich ein Konsumverhalten ändert, ist einfach zu passiv. Diejenigen, die Möglichkeiten haben, sind auch in der Verantwortung, etwas zu tun. Die Möglichkeiten müssen nur ergriffen werden. Uns schwebt nicht vor, dass irgendwann nur noch Vertical Farming oder Unterwasser-Plantagen betrieben werden. Wir sehen eine riesige Chance darin, die Landwirtschaft im ursprünglichen Sinne wieder neu zu entdecken und neu zu definieren. Über die Vernetzung mit anderen können wir solche Themen noch stärker in den Fokus bringen.

Nur darauf zu warten, dass sich ein Konsumverhalten ändert, ist einfach zu passiv. Diejenigen, die Möglichkeiten haben, sind auch in der Verantwortung, etwas zu tun.

Gibt es ganz konkrete Projekte? 

T: Was wir gerne mit aufbauen würden ist eine Art Verteilungszentrum für die Berliner Gastronomie – diese zu bündeln und eine Schnittstelle zur Brandenburger Landwirtschaft zu schaffen, wofür man bereits vorhandene Logistikstrukturen nutzen und umwandeln könnte. Gastronom:innen könnten sich vielmehr in Einkaufsgemeinschaften zusammentun.

N: Und es muss auf jeden Fall auch die Kommunikation zu diesem Thema gestärkt werden, um einen funktionierenden Kreislauf zu bilden. Momentan versorgen bestimmte Brandenburger Landwirt*innen bestimmte Berliner Unternehmen, aber es ist noch kein wirklich dynamischer Zyklus entstanden zwischen der Produktion auf dem Land und der Metropolstellung, die Berlin innehat – die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus dem Umland sind hier noch nicht genügend sichtbar. Man muss sich ja auch die Frage stellen, warum zukünftig Tourist:innen nach Berlin kommen sollen, wenn es zum Beispiel keine Clubkultur mehr gibt, wie es sie vor der Coronakrise gab. Welche unausgeschöpften Möglichkeiten bieten sich noch?


Kommt an dieser Stelle die Gemeinschaft für euch ins Spiel?

N: Wenn wir uns vernetzen, haben wir eine größere Schlagkraft, genau die Dinge zu ändern, die notwendig sind. Denn die Notwendigkeit ist auf jeden Fall da. Nur in einem Zusammenschluss aus Vielen ist es möglich, alte Strukturen zu reformieren. Bestes Beispiel sind die aktuellen Ausbildungsmöglichkeiten, die sind überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Wie bereiten wir junge Menschen heutzutage auf das vor, was auf sie zukommen wird? Wie gibt man Einblicke in bestimmte handwerkliche oder landwirtschaftliche Praktiken? So etwas lässt sich auf jeden Fall besser im Zusammenschluss umsetzen.

T: Durch den Zusammenschluss ergibt sich ein neuer Raum, der eigentlich komplett genossenschaftlich organisiert werden kann, zum Beispiel über Mitgliedsbeträge. Leider besetzen meist große Player wie Lieferando oder Booking genau diese Räume und nutzen die Abhängigkeit der Hotellerie und Gastronomie, um ihren eigenen Profit zu vergrößern. Dabei könnte man auf diese ‚Mittelmänner‘ verzichten und stattdessen Bindeglieder in Form von Organisationen zwischen den Unternehmen haben, die gemeinschaftsgetragen sind und nicht profitorientiert arbeiten. Die Gemeinschaft schafft genau diesen Raum, der Veränderungen einleitet.


In welchen Bereichen des Lebensmittelsystems spürt ihr bereits Veränderungen und was muss sich noch tun? 

N: Im Lebensmittelbereich spüre ich es im Handwerk, auch in der Landwirtschaft tut sich etwas – aber gemessen an der Wichtigkeit noch viel zu wenig. Es fühlt sich so an, als stünde eine gesellschaftliche Bewusstseinsänderung ganz kurz vor der Entfaltung. Als Beispiel, wieso werden in Kitas und Krankenhäusern nicht flächendeckend organische Lebensmittel angeboten? Die Grundlagen und die Machbarkeit dafür sind da, nur die Entscheidungen dafür fehlen.

T: Wenn es alle wollen, kann es total schnell gehen, denn die Zusammenhänge sind alle da. Wenn wir bessere Böden haben, wachsen Pflanzen mit mehr Nährstoffen, die zu besseren Produkten verarbeitet werden, die dann wiederum die Gesundheit des Menschen positiv beeinflussen. Wir haben uns allerdings von der Meinung befreit, dass etwas passieren ‘muss’, denn diese Art zu denken gibt uns nicht den nötigen Handlungsraum. Wir glauben vielmehr an das, was passieren ‘kann’, wenn man verschiedene Wege aufzeigt. Wenn wir etwas müssen, ist es, das Bewusstsein maximal zu erweitern.

N: Die Dinge fangen bei uns selbst an – diese Tatsache wirklich ernst zu nehmen ist die größte Grundvoraussetzung. Das bedeutet, Vertrauen in die Menschheit und die Natur zu haben, die Überzeugung, dass wir Teil eines Ganzen sind.

T: Es wird niemand kommen und es für uns machen, wir haben alles selber in der Hand. Wir sollten die Hoheit unserer eigenen Handlungen und ihrer Bedeutungen erkennen. Auch die Politik ist ja nur eine Vertretung von uns, die nicht besser oder schlechter ist als wir als Gesellschaft. Und auch wenn es strukturelle Dinge gibt, deren Änderung von oben passiert, wird die wesentliche Änderung von unten, aus der Gesellschaft heraus, kommen. Von jedem einzelnen in der vernetzten Form.

Fotos
Ben Stockley, Michelberger Hotel, Philipp Obkircher

Text und Bearbeitung
Carolin Foelster

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